Albrecht Nitsch erzählt

Albrecht Nitsch - Nachkriegslage - Oldendorf 1946 bis 1953
Vorab eine Erklärung zur damaligen Nachkriegslage, die den jüngeren Generationen nicht immer geläufig und damit folglich unverständlich sein dürfte und für viele Familien damals in ähnlicher Weise zutraf wie für unsere:

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Wo kommen wir her?
Meine Vorfahren lebten nachweislich vorwiegend als Landwirte und Kaufleute über mehrere Jahrhunderte in Ostpreußen, im Großraum um Königsberg. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Dieser Wahnsinns-Krieg führte zum Verlust der Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern und Schlesien mit Millionen Toten und einer Flut an Vertriebenen und Flüchtlingen, die meist nur mit wenigen Habseligkeiten irgendwo im Westen landeten oder auch auswanderten. Beraubt ihrer Existenzen.
So traf es auch unsere Familie. Nach einigen Irrwegen, geleitet von vielen Zufällen, verschlug es uns in den Westen, nach Oldendorf, dem Ort, der an der Reichsstraße 1 (Heerstraße), die von Aachen über Berlin nach Königsberg führte und am östlichsten Ende des damaligen Deutschen Reichs, in Insterburg, Ostpreußen, endete.
Meine Familie stammt - von Oldendorf aus gesehen - fast genau 1000 km entlang dieser Reichsstraße 1 aus dem Ort Altenberg: Die Reichsautobahn Berlin - Königsberg endete kurz hinter diesem Ort und bis zum Stadtzentrum von Königsberg (mein Geburtsort) waren es nur 4 km.

Nachbarort unseres Heimatortes Altenberg war Tharau, bekannt durch das Lied Ännchen von Tharau. Meine Urgroßmutter väterlicherseits hatte mit Anna Neander, der Ännchen von Tharau Kontakt. Und in der Kirche von Tharau haben 1791 meine Ur-,Ur-Ur-Großeltern geheiratet.

Mit Hilfe des Militärs flüchteten wir von dort am 26.1. 1945 und zwei Tage später am 28.1.1945 wurde dieser Ort dem Erdboden gleich gemacht, da er in der Hauptkampfzone der Russen zur Eroberung Königsbergs lag. Vier Wochen dauerte unsere Flucht bei einem frostigen, schneereichen Winter über die Ostsee, und sollte eigentlich in Schleswig Holstein enden. Wegen der unzähligen Flüchtlinge im Norden Deutschlands endete für uns die Flucht aber in einem Internierungslager in Oxböl, Dänemark. Zunächst, für fast zwei Jahre. 30.000 Menschen abgesperrt hinter Stacheldraht in einer „Kleinstadt“ von Baracken. 11 Personen auf 20 Quadratmetern Wohn,- Schlaf- und Lebensraum.

Heuer 1In Oldendorf fand sich im Herbst 1945 ein Teil unserer Verwandtschaft ein: Vom damaligen Bürgermeister Schwenke erhielten die Schwester meines Vaters, Hedwig Wiehler, mit ihren drei Söhnen, die Mutter meines Vaters und unsere Familie eine neue, vorübergehende Bleibe bei Alma Heuer mit ihren Söhnen Richard und Günter (Hagenstraße; damals postalisch richtige Adresse: Haus Nr. 12, Oldendorf über Elze). Beim Bauern Wöhler (Dorfstraße, heute Wahner) kam meine Tante Käte Neumann mit ihrer Familie unter.
Wo waren wir gelandet?
Am 29.10.1946 durften wir (meine Mutter, mein Bruder Christian und meine Großmutter) mit der Bahn aus dem Internierungslager Oxböl in Dänemark ausreisen (wir Kinder mit Pappschild um den Hals, darauf Name und Zielort) zunächst zum Auffanglager Osnabrück und dann weiter nach Hameln. Von dort holte uns mein Vater ab, der inzwischen aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war. Unsere Familie war nach über zwei Jahren Trennung erstmals wieder zusammen.

Wir hatten nichts außer unserer Kleidung am Leib und den wenigen Utensilien im tragbaren Handgepäck. Das war unser Anfang nach dem Krieg in Oldendorf und wir hatten das Glück, in Alma Heuer mit ihren Söhnen gute „Gastgeber“ gefunden zu haben. Sämtliche Möbel, Stühle, Tische, Betten etc. erhielten wir von Heuers. Ohne Murren oder Vorwürfe. Das war bei anderen Vermietern nicht immer so. Anderen Flüchtlingsfamilien erging es ähnlich wie uns.
Das Elend nach dem Krieg war groß. Wir Kinder waren da hinein gewachsen und hatten ja keine Vergleichsmöglichkeiten, für uns war die damalige Situation „Standard“. Die Wohnküche, in der wir dann 7 Jahre lebten, war ca. 8 Quadratmeter groß. Hier spielte sich unser tägliches Leben ab. Die Möbel gehörten Heuers: Ein Herd, ein Tisch zwei Stühle, ein Sofa und ein kleiner schöner, alter Schrank sowie ein Kohleherd das war unser „Zuhause“. Ein Schlafzimmer im Obergeschoss des Hauses, in dem die Betten und ein Schrank standen. Das Wasser wurde mit einem Eimer von der Handpumpe aus dem Kuhstall geholt. Der Brunnen, aus dem das Wasser kam, war halb offen am Haus und in ihn fielen gelegentlich auch Mäuse. Das wusste jeder und keinen störte das. Das Klo, das die 20 Personen benutzten, war ein Plumpsklo im Kuhstall und ohne Licht oder gar Wasserversorgung. Zeitungspapier diente in diesem Zusammenhang der Körperpflege. Wir haben auch das überstanden.

AlmaWir alle lebten dort im Haus in gutem Einvernehmen und hatten auch weiterhin guten Kontakt als wir 1953 Oldendorf verließen. Später, es war etwa ein Jahr bevor Richard Heuer am 24.12.2010 starb, hatten meine Frau und ich ihn nochmal in alter Verbundenheit besucht.

Erinnerung an Richard Heuer: Er wäre am 17.6.2022 100 Jahre alt geworden.

Wir waren damals in einem neuen Umfeld angekommen, in dem man das raanste Deutsch spraach und wo es einst hieß, da lebt ... „Dem Landesvater sein treues Volk.“ Wir waren im Begriff treue Bundesrepublikaner zu werden.

 

 Personensuche – Wie fanden sich die Familien?
Wie war es zum Kriegsende möglich, dass sich – wie auch in unserem Fall - ohne Telefon und mit unbekannten Reisewegen und Reisezielen dennoch die Familien, Freunde und Bekannte so schnell ausfindig machen konnten? Das war dadurch möglich, dass vor der Flucht bestimmte Anlaufadressen im Westen angegeben wurden, bei denen dann wieder nachgefragt werden konnte. Soldaten, sofern sie noch lebten, waren über die „Feldpost“, die militärische Post, zu erreichen. Was heute unglaublich erscheint, aber wirklich funktioniert hat, waren die vielen Zettel an Straßenbäumen, Schildern, Laternenpfählen etc., auf denen Suchmeldungen jeder Art standen. Auch in Oldendorf. Zudem war ein Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes über die Rundfunkanstalten aufgebaut worden, der täglich mehrmals und regelmäßig Suchmeldungen ausstrahlte. Ich kann mich gut erinnern, dass dieser noch Anfang der 1950er Jahre täglich mittags und abends abgehört wurde. Der Suchdienst besteht auch heute noch und kann z. B. auf Youtube angesehen werden: „1945 xx xx Die Deutsche Wochenschau DRK Suchdienst“. Sehr empfehlenswert, sich diesen Bericht anzuhören und die Gesichter der Kinder zu sehen, die ihre Eltern suchten. Und noch etwas kam hinzu: Die Not schaffte Zusammenhalt und Verbindungen, wie wir sie heute nicht mehr kennen.

Oldendorf: damals übervölkert, heute menschenleer
Fährt man heute durch Oldendorf, dann kommen in mir zu jedem Ort Erinnerungen auf, die so gar nicht zum heutigen Ortsbild passen. Oldendorf war flächenmäßig viel kleiner als heute: Die Straße am Hohen Feld gab es so nicht. Sie war ein Feldweg und wo heute die Häuser neben der Straße stehen verlief eine Bimmelbahn, eine Schmalspurbahn, die täglich vom Steinbruch in Salzhemmendorf Kalksteine zum Kalkwerk am Osterwalder Bahnhof transportierte. Im Bereich an der Heerstraße waren Schrebergärten – richtige Einheimische sprachen von Gärchten -, auf der Hube standen nur wenige Häuser. Wo heute die Schule steht, war freies Feld, denn die mehrklassige Schule wurde erst im Frühjahr 1953 fertiggestellt und ich habe dort auch noch wenige Wochen Unterricht gehabt.

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Auch der Sportplatz, der Bolzplatz, wurde erst zu jener Zeit angelegt und zur Einweihung kam der Deutsche Meister – Hannover 96 - weil ein Spieler der 96er, Herr Müller, aus Oldendorf-Glashütte stammte. Damaliger Trainer für die Oldendorfer Jugend war Herr Fiebig vom Hagenbrink.
In meiner Erinnerung war früher alles viel größer, geräumiger, die Straßen viel breiter als gegenwärtig, was natürlich nicht zutrifft. Die Dorfstraßen sind heute fast menschenleer. Früher waren sie sehr belebt, denn alle Häuser waren mit Ausgebombten (das waren die Städter z. B. aus Hannover, Hamburg oder auch Berlin), Vertriebenen und Flüchtlingen gefüllt. Bei Heuers wohnten allein etwa 17 bis 20 Personen! Das ist nicht übertrieben: Heuers 3 Pers., 1 oder 2 Hausmädchen, Familie Kauke 2 bis 3 Pers., Familie Wiehler 4 Pers., Familie Nitsch mit Großmutter 5 Pers. und 3 Brüder Schulz. Bei unserem letzten Besuch 2009 lebte Richard Heuer mit seiner Frau allein in dem Haus.
Nebenan beim Schlachter Mund wohnte damals ein Tierarzt mit seiner Familie. Gegenüber auf der anderen Straßenseite im Eckhaus lebte in der vorderen Haushälfte die Familie Radtke mit 3 Kindern. Gegenüber von Heuers lebten im Haus von Renzihausen die Familie Enß aus Westpreußen, die Familie Ehni stammte aus Bessarabien, Frau Ehni starb kurz nach der Ankunft in Oldendorf und die Tochter Lenchen wurde in dieser Krise Halbwaise. Und dann lebte in dem Haus auch noch die Familie Heipe (deren Tochter war damals mit einem englischen Soldaten, einen Tommi, befreundet, der sie öfter mit einem Militärlaster besuchte. Das galt damals als sehr anrüchig, mit einem Feind befreundet zu sein). Die Räume waren klein und niedrig und auch das Haus war einfach überfüllt. Diese kleinen, niedrigen Räumen nannte man Butzen. So oder ähnlich sah es im ganzen Dorf aus. Nicht immer ging es so friedfertig zu wie in der „Wohngemeinschaft“ bei Heuers. Es gab Hausgemeinschaften, in denen es auch laut wurde und Kinder, Jugendliche, die Blaagen, die nervten. Ruhe gab es erst, wenn die Kinder nach´m Bette waren.
Viele Männer, schwer geschädigt durch den Krieg, die sich mit primitiven Holzkrücken oder mit urtümlichen Rollstühlen und zerschossenen Gesichtern durch das Dorf bewegten, waren in den ersten Jahren Teil des Straßenbildes. Es irrten auch Männer umher, die nur ihre zerschlissene Uniform und einen Beutel mit Utensilien bei sich hatten. Durch den Krieg verkrüppelte Menschen waren häufig im Alltagsbild anzutreffen. Ich erinnere mich an einen Mann, dem die zerschossene Schädeldecke durch eine Silberplatte ersetzt worden war. Er lebte mit seiner Familie beim Schmied Heuer und hatte große Gedächtnisprobleme, worüber sich mancher lustig machte. Das bleibt in Erinnerung.

In Erinnerung bleibt mir auch jener Tag im Oktober 1947 als im etwa 30 km entfernten Godenau (kurz vor Alfeld) ein Munitionsdepot der Wehrmacht explodierte. 3600 Tonnen Sprengstoff wurden dabei mit einer so riesigen Detonation vernichtet, dass der Donner in Oldendorf noch deutlich zu hören und der Himmel rot-schwarz verfärbt war.  Meine Großmutter hatte große Angst vor einem erneuten Krieg und saß nach wenigen Minuten mit kleinem Handgepäck fluchtbereit in der Veranda von Heuers Hauseingang. Es herrschte große Aufregung. Es gab auch welche, die meine Großmutter belächelten. Doch ihre Lebenserfahrung von zwei Weltkriegen stand dagegen.

 

Die Volksschule

Vor dem Alten KindergartenDie einklassige Volksschule am Kirchweg quoll aus allen Nähten, es galt aber alle Schüler zu unterrichten. Der ehemalige Kindergarten (Kleine Gasse) wurde zur Schule umfunktioniert. In meiner Klasse waren wir dort 1949 32 Kinder. Von einigen Kindern waren die Väter im Krieg gefallen. Alle haben aber etwas gelernt. Kein Kind blieb auf der Strecke. Es gab keine sonderpädagogischen Programme oder gar Einzelbetreuungen. Der frühere einzige einheimische Dorfschullehrer wurde durch drei Kollegen aus Schlesien und Ostpreußen ergänzt. Unterricht war wegen des Raummangels an Vor- und Nachmittagen an den drei Standorten: Hauptschule (neben Bäcker Schrader, ein Klassenraum; ein Klassenraum neben der Kirche und der ehemalige Kindergarten mit einem Klassenraum). Alle Kinder der damals 4. Klasse, die bei Fräulein Fabian - sie stammte aus Schlesien - Unterricht hatten und zur Mittelschule oder zum Gymnasium wollten, erhielten von ihr freiwillig einen Zusatzunterricht, um den anstehenden Aufnahmeprüfungen gewachsen zu sein. Das war ihr persönlicher Ansporn, ohne zusätzliche Vergütung.
Die wirtschaftliche Not war ausgeprägt: Daher gab es auch eine „Schulspeisung“ für alle Kinder damals in der Kleinen Gasse vor der Schule. Im mitgebrachten Essgeschirr bekamen wir für eine gewisse Zeit eine Suppe, kakaoähnlich mit einem eigentümlichen Geschmack und Geruch, der mir noch heute in Erinnerung ist. Wir waren alle begeistert.
Schulferien: Es war noch etwa zwei Jahrzehnte nach Kriegsende nicht wie heute üblich, in den Ferien zu vereisen. Die meisten Familien blieben zu Hause. Eine Fahrt vielleicht mal nach Hameln, das war schon ein Erlebnis.
Schreibtafel und Griffelkasten: In der ersten Klasse der Grundschule - früher hieß sie Volksschule - wurde auf Schiefertafeln mit einem Schiefergriffel geschrieben. Mit einem Schwamm wurde die Tafel gereinigt. Kein Papier, kein Bleistift oder Tintenfüller, dafür hing der kleine Schwamm zum Säubern der Tafel aus jeder Schultasche.. Schönschreiben hieß eine extra Stunde, um sich ein sauberes Schreibbild zu erarbeiten. Dieses Fach gibt es heute in den Schulen nicht mehr. Ebenso hatte der Musikunterricht einen höheren Stellenwert: Deutsche Volkslieder standen im Mittelpunkt: „Vöglein im hohen Baum…“ Wer kennt das heute noch? Unsere Kinder lernten „Yippie Yippie yea ...“


Taschengeld: Ich kann mich nicht daran erinnern, das wir überhaupt über Taschengeld sprachen. Das kannten wir nicht. Zur Schule bekamen wir neben unserem Pausenbrot noch 2 Groschen für eine Flasche Kakao mit, dass war erst ab Herbst 1953, als wir Fahrschüler wurden. Nach heutigen Maßstäben galten alle Kinder zu unserer Jugendzeit als extrem arm! Kindergeburtstage feiern: Fehlanzeige.


Die Neuen - Unliebsame Bürger

nitsch 4Natürlich bekamen wir es gelegentlich zu spüren, dass wir nicht einheimisch waren.  Das ließ mich Lehrer Wallis spüren: Dieser einheimische Oldendorfer - vor 1945 NAZI, danach Sozialdemokrat - beschimpfte mich - obwohl er mich überhaupt nicht kannte, ich war auch noch nicht eingeschult - völlig grundlos als „Lumpenpack und Zigeunervolk“. Er musste seinen Frust gegen die aus seiner Sicht unliebsamen Neubürger loswerden. Damit erklärte er sich allerdings zu einem Kleingeist besonderer Form. Nach heutigen Maßstäben hätte er seinen Lehrerstatus sofort verloren. Das waren damals die kleinen Unterschiede im Alltagsleben. Aber sonst waren wir als Kinder in dieser Umgebung eigentlich ganz zufrieden, obwohl wir den Unterschied im Lebensstandard zu den einheimischen Kindern doch merkten.
Ein Einschub aus späterer Zeit: Als ich in der 11. Klasse des Gymnasiums in Hildesheim war, hatten wir einen damals ähnlichen gearteten Lehrer. Ein Schüler, dessen Eltern umfangreiche Besitzungen durch den Krieg im Osten verloren hatten, reichten die ständigen Stänkereien. Völlig überraschend kam er eines Morgens zum Sportunterricht mit einem roten Nelkenstrauß, hielt in sächsischem Dialekt eine Lobrede auf den Sozialismus, packte sich den kleinen Lehrer gab ihm vor allen Schülern links und rechts einen sozialistischen Bruderkuss, klemmte sich den kleinen Wichtigtuer unter den Arm und drehte so mit ihm – unter unserem tosenden Beifall – eine Ehrenrunde durch die Turnhalle. Die Stänkereien waren hier elegant zum Ende gebracht.


Währungsreform

Übrigens gab es noch bis etwa zur Währungsreform 1948 Lebensmittelkarten (auf Hannöversch: Lebensmittelkachten).Lebensm1 Mit diesen wurde die Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sichergestellt. Als dann am Sonntag, den 20. Juni 1948 der Tag der Währungsreform kam, ein sonniger Tag, standen alle Bewohner Oldendorfs in Schlange vor dem Haus des damaligen Bürgermeisters Schwenke (Dehne) um 40 Reichsmark gegen die neue Währung 40 DM (Deutsche Mark) zu empfangen. Das war der Start für den wirtschaftlichen Aufschwung der neuen Bundesrepublik Deutschland. Ab da gab es wieder alles zu kaufen. Die zuvor leeren Schaufenster waren plötzlich wie ein Wunder wieder gefüllt.
Auch das gehörte dazu: Die Flüchtlinge organisierten sich in ihren Landsmannschaften und sogar in einer eigenen Partei: Der BHE, der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, so der volle Name. Es wurden viele Versammlungen abgehalten und Kontakte zu Verwandten und ehemaligen Nachbarn sowie Freunden aufgebaut und gepflegt. Dennoch konnten die Betroffenen nicht an den endgültigen Verlust der Heimat glauben. In vielen Familien herrschte Trauer, da vor allem Väter aus dem Krieg nicht zurückgekommen waren. Aber, es wurden auch wieder Feste gefeiert, auch das gehörte dazu. Rübenschnaps wurde in Waschküchen hergestellt und das Produkt förderte das Zusammenleben.
Anfang der 1950er Jahre entspannte sich die Lage, so dass sich gut 10 Jahre nach dem Kriegsende ein Wiederaufbau des Landes in ungeahntem Umfang entwickelte, der als das Wirtschaftswunder bezeichnet wurde und über ein Jahrzehnt anhielt. Die Flüchtlinge waren aktive „Mitleister des Wirtschaftswunders“, wenn nicht sogar Motor dieser Epoche.


Onkelehen

Viele Ehemänner waren Opfer des Krieges geworden. Die Witwen mit Kindern mussten aber ihr Leben gestalten. „Onkelehen“ entstanden. Das war neu und galt bis dahin als sittenwidrig. Diese Ehen ohne Trauschein waren ein Teil der Überlebenskunst. Die Eheschließung wurde vermieden, da Kriegerwitwenrenten, die dringend für die Familien brauchten, sonst nicht mehr gezahlt worden wären.
In jenen Jahren heirateten auch Einheimische Flüchtlinge: Herr Kurrat aus Ostpreußen heiratete die Tochter des Bauern Renziehausen und die Tochter des Bauern Timmermann ehelichte Herrn Marx, der aus Schlesien stammte..
In dem ursprünglich „kleinen“ Dorf Oldendorf - ländlich, bäuerlich dominierend mit Pferdefuhrwerken, manchmal mit einem Kuh- und Ochsengespann der kleinen Butjer, aber auch mit Trekkern (Lanz Bulldog, Hannomag, keine figeliensche Technik, wenige Pinökel zur Bedienung) geprägt - war damals ein buntes Bevölkerungsgemisch. Tänzer, Sänger, Schauspieler, Ärzte, Tierärzte, Zahnärzte, ehemalige Berufssoldaten, Kaufleute sowie Handwerker und alle möglichen Berufe waren in diesem Dorf zumindest für kurze Zeit vertreten.

Bremervörde im Mai 2022
Dr. sc. agr. Albrecht Nitsch;

Zur Person: 1943 in Königsberg geboren, 1945 bis 1946 Internierungslager Öxböl in Dänemark. Danach bis September 1953 in Oldendorf, anschließend in Ahrenfeld gewohnt. Landwirtschaftliche Lehre, Abitur. Reserveoffizier der Bundeswehr. Studium der Agrarwissenschaft in Göttingen. Promotion im Bereich Pflanzenzüchtung 1975. Danach ein Jahr Tätigkeit beim Landwirtschaftsministerium in Baden-Württemberg. Ab 1976 bei der Landwirtschaftskammer Hannover / Niedersachsen in Bremervörde. Gutachter und Autor zahlreicher Fach-Publikationen.
Seit 2008 lebe ich mit meiner Frau Helga – eine „Einheimische“ aus Bad Pyrmont - im Ruhestand. Wir haben einen Sohn und eine Tochter sowie 3 Enkelkinder. Ihre Berufe haben auch sie von ihrem Geburtsort Bremervörde nach Goslar und Landsberg am Lech gebracht.

Fortsetzung folgt

Anmerkung: eingefügte Fotos (außer Albrecht Nitsch - Familie Heuer und aus unserem Archiv)

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